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Dr. Anne Mueller von der Haegen, zur Eröffnung der Ausstellung "Zeit-Klänge" im Kreuzgang der Brüdernkirche, Braunschweig September 2003
Anne Mueller von der Haegen, Zeit_Klänge

Mit Eintritt in den Kreuzgang der Brüdernkirche bewegen wir uns auf einem anderen als dem gewohnten Terrain. Für uns bewusst oder auch unbewusst umfängt uns Geschichte – Kirchengeschichte, die bis ins Mittelalter zurückreicht, als vier Jahre nach dem Tod von Franz von Assisi das Franziskanerkloster in Braunschweig errichtet wurde, über die Renaissance, als Bugenhagen von diesem Kloster aus im Braunschweiger Land die Reformation einführte, und bis in unsere Gegenwart wirksam in dem Nebeneinander von Prediger-Seminar und St. Ulrici-Brüderngemeinde.

 

Heute und für den nächsten Monat legen sich in die eigentümliche Stille des Kreuzganges Klänge. Sie werden aufgenommen vom Gewölbe, kehren von dort zurück und umhüllen uns, mischen sich mit Motorengeräuschen und dem Gurren der Tauben. Die Klänge verbinden sich mit städtischen Außengeräuschen, die uns nicht mehr unversehens aus der kaum merklich wachsenden Verzauberung in die Realität zurückholen können.  Dies geschieht anders – Da hören wir Tonfolgen, die wie anschwellendes Beifallsklatschen klingen. Der Beifall wird abgelöst durch bedrohlich näherrückende marschierende Schritte. Eine kurze Stille tritt ein und dann ein Knall – war es ein Schuss?

Wir sind herausgerissen aus meditativer Versunkenheit und nehmen veränderte Gedanken und Gefühle mit, wenn uns die Klänge erneut umhüllen.

Gregorianische Chorgesänge, Gemurmel, Brunnengeplätscher, Windgewisper steigt mit den gotischen Gewölbestreben auf und wieder herab in den Sand. Der Luftraum scheint von alten und neuen, von inneren und äußeren Geräuschen gänzlich gefüllt.

 

Für Hans Wesker sind es die Klänge der Gemäuer, der Geschichte des Gebäudes. Klänge, die er hört und sieht, wenn er den Erzählungen der Steine, der Grabplatten und des Maßwerks lauscht - Klänge der Zeit, aufsteigend aus den blauen Kuben, deren suprematistische Farbigkeit an die unendlichen Tiefen der Meere denken lässt. Und deren leicht gestreckte, dynamische Form als Antwort auf das spitzbogige Gewölbe den Tönen eine Richtung vorzugeben scheint.  Die Kuben erwachsen von irgendwo her aus dem feinen, hellen Sand. Sand, den der Künstler als Symbol des Herkommens und Hingehens also der Zeitlichkeit der Gebäude begreift. Der Sand, vom Wasser gemahlen und uralt, korrespondiert mit den vergehenden Tönen.

 

Dem Fluss der Zeit scheinen nur die plastischen Formen zu widerstehen – festgefügte unverrückbare Blöcke, und doch liegen die auf die anderen Kreuzgangarme ausgreifenden Säulen, mehr noch: sie scheinen umgestürzt. Und überhaupt – sind diese plastischen Formen nicht mehr nur Träger, Hüllen der Töne? So wie Architektur als im hegelschen Sinne symbolische Kunstform nicht für sich selbst steht, sondern Träger, Hülle für Glauben oder Herrschaft oder Status also für etwas Gedankliches und Gefühltes ist.

 

Es ist ein komplexes Bild, das uns der Maler Hans Wesker zu hören, zu sehen, denken und fühlen gibt.

 

Klänge legen sich wie Farbschichten übereinander. Der Maler reagiert auf das sich Ergebende. Ein emotionaler, innerer Ausdruck wächst und nimmt Gestalt an im Dialog mit den Farben oder hier mit den Klängen. So antworten die Klänge wie die Farben eines Bildes aufeinander, entfernen sich voneinander und finden wieder zusammen – rote, violette, blaue und umbrafarbene Klänge, ein spitzes Orange stört ein wenig und ein Ornament sammelt, setzt den festigenden Akzent. Es ist wie eine die Luft erschließende Malerei.

Sonst entstanden in der Arbeit von Hans Wesker Farbschichten, Farbräume, meist zweidimensional, manchmal sich dreidimensional erweiternd. Hier wird der umgebende Raum zu Malerei, die Farbschichten werden zu Klangräumen – die Zeit tritt als neue Dimension hinzu. Seit einigen Jahren schon befasst sich der Maler Hans Wesker mit Klangbildern, Klangfarben, Klang-Installationen. Es ist die Zeit, vor allem die erinnerte Zeit, die Hans Wesker von den Farben zu den Klängen bringt.

 

Es sind die Geschichten, die etwa ein Kirchenraum in Hamburg oder eine alte Mauer in Völksen und eben der hiesige Kreuzgang erzählen. Geschichten, die sich verbinden mit Selbsterlebtem und eigener Erinnerung. Es sind die Farben der Verwitterung und die versunkenen Töne, die der Künstler zu vergegenwärtigen sucht und mit der eigenen gewachsenen Gegenwart zusammenführt. Er berührt so in besonderer Weise die Grenzen seines Gefühls für die Welt und seines inneren Gleichgewichts.

 

Aus der sich verdichtenden Malerei entspringt ein neues Moment: Der Farb-Raum wird zum Klang-Raum, ja eigentlich zum Zeit-Raum. Ihn ihm eröffnet sich ein emotionales Volumen. Direkter und unmittelbarer rühren Töne an unseren Gefühlsschichten. Wir lassen uns mitragen und werden zugleich auf uns selbst, auf die in uns wohnende Zeit zurückgebracht. Unsere Zeitgenossenschaft ist verwoben mit den Sphären der erinnerten Vergangenheit durch die elektronisch erzeugten Klänge. Und wir bewegen uns zwischen den Klängen wie ehedem die Mönche. Wir hören unsere Schritte im Sand, hinterlassen unsere Abdrücke, wir fügen den Zeitspuren des Gemäuers und dem Zeitfluss der Töne unseren eigenen Rhythmus, unsere Zeit und unsere Vergänglichkeit hinzu.

 

Wir nehmen die Zeit der Klänge mit uns mit. Sie verändert unser Hören und auf merkwürdige Weise auch unser Sehen.

 

Dr. Anne Mueller von der Haegen, zur Eröffnung der Ausstellung "Zeit-Klänge" im Kreuzgang der Brüdernkirche, Braunschweig September 2003

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