Reinhold Happel, Auf der Suche nach dem was ist oder Sein könnte
Paul Cèzanne hat einmal in seinen legendären Gesprächen über die Kunst mit Gasquet die Malerei folgendermaßen definiert: Malerei ist zuerst eine Sache der Sichtbarkeit. Der Inhalt der Kunst liegt in dem, was unsere Augen denken.
Die Offenheit gegenüber der Wirklichkeit in ihrer ganzen Vielfalt sinnlicher Erscheinungen, ihre Überprüfung, Durchdringung oder Bearbeitung im künstlerischen Arbeits- und Erkenntnisprozeß ist seit jeher ein wesentliches Antriebsmoment der Kunst und insbesondere der Avantgarde gewesen. Immer haben Künstler – und dies vor allem seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert – die allgemeinen ästhetischen Normen und Ideale wie die Anschauung der Welt radikal in Frage gestellt und damit – zumindest langfristig – nicht unwesentlich zur Erweiterung unseres Vorstellungs- und Wahrnehmungsvermögens beigetragen.
Als die Naturalisten in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, etwa Max Liebermann oder Fritz von Uhde, in Anlehnung an Courbet oder Millet die Welt der einfachen Menschen, die Welt der Arbeit entdeckten und als bildwürdiges Motiv auf die Leinwand brachten, scheuten sie sich nicht, die Mühsal und Härte, den Dreck und den Schweiß jener Welt darzustellen und zwar so, wie er sich tatsächlich zeigte, ohne beschönigende Töne. Es war kein Wunder, das die damalige etablierte Kunstwelt auf eine solche Malerei mit einem Aufschrei des Entsetzens reagierte – am bekanntesten dürfte wohl jener Ausspruch Kaiser Wilhelms II. Sein, der bezogen auf die Avantgarde der Jtahrhunderwende, zu der für ihn nicht zuletzt auch die Naturalisten zählten, von einer Rinnsteinkunst sprach.
Was hier bildwürdig wurde und wogegen sich die damalige Kunstkritik insbesondere wandte, war die Häßlichkeit, die Häßlichkeit der Wirklichkeit, die schlaglichtartig und in aller Schärfe das hohle Pathos und den idealistischen Schönheitsbegriff der herrschenden Salonmalerei in Frage stellte.
Wie ein roter Faden läßt sich durch die Geschichte der Moderne die Grenzüberschreitung, die ständige Infragestellung ästhetischer Normen und Begrifflichkeiten – insbesondere des Schönheitsbegriffs – verfolgen. Man denke nur an die Expressionisten, deren verzerrte, manchmal geradezu entstellend wirkende Menschendarstellungen nicht erst von den Nationalsozialisten, sondern schon von den Zeitgenossen der Künstler großteils als abscheuliche Ausgeburt des Wahnsinns abgetan wurden. Heute jedoch wissen wir gerade die Kunst aus der Spannung von Bildrealität und Wirklichkeit heraus als faszinierende Darstellungen und Interpretationen der Realität zu würdigen und zu genießen.
Man kann, um den Faden der Grenzüberschreitung noch etwas weiter zu spinnen – auch an Kurt Schwitters denken, der seine anarchisch-provokative Haltung der Dadazeit am Ende des 1. Weltkrieges in den 20er Jahren hinübergeführt hat in eine künstlerische Arbeit, die sich fast ausschließlich aus dem ästhetischen Reiz von Abfallmaterialien speist, von Papierschnipseln bis zum Sperrmüll. Schwitters hat in seinen kleinformatigen Papiercollagen oder in den Materialbildern den scheinbar wertlosen, oft unansehnlichen Resten der industriellen Produktion geradezu unglaubliche ästhetische Qualitäten abgewonnen, indem er den Dingen eine neue Realität verschaffte, eine Realität als Kunstwerk oder als Bestandteil eines Kunstwerkes, so daß sie für uns als Betrachter durch dieses quasi künstlerische Recyclingverfahren, indem wir die Dinge unabhängig von ihrer ursprünglichen Funktion wahrnehmen, wieder anschaulich werden und einen neuen, anderen Wert gewinnen können.
Und schließlich könnte man, um der Gegenwart noch ein Stück näher zu kommen, an die arte povera oder an die land-art denken, die Materialien wie Erde, Sand, Stein, verrostetes Metall, also belanglose, bisher im Kontext von Kunst als wenig erachtenswerte Materialien zum Gegenstand künstlerischer Reflexion und Arbeit machen, wobei neben möglichen inhaltlichen Bedeutungen das Material selbst als Material im Mittelpunkt steht.
Immer ist es in den genannten Beispielen das scheinbar ästhetisch Minderwertige, das Unansehnliche, Häßliche, das durch den künstlerischen Akt zur Disposition getellt wird und uns veranlaßt oder zumindest als Angebot offeriert, sowohl unsere Auffassung von Kunst wie überhaupt unsere allgemeinen Wahrnehmungs- und Wertungsgewohnheiten von Wirklichkeit zu hinterfragen. So auch bei Hans Wesker.
Wesker, der zunächst an der Fachhochschule in Bielefeld und danach an der HBK in Braunschweig studiert hat, ist Maler. Aber sein Werk ist nicht nur auf Farben und Leinwand beschränkt, sondern es erstreckt sich auch in den Raum. Neben Papierarbeiten sind in den letzten Jahren großformatige Bilder entstanden, die nicht nur einen malerischen, sondern auch einen haptischen Reiz ausüben. Er verdankt sich weniger der Farbe als vielmehr den von Wesker verwendeten Materialien.
Sie zeigen eine brüchige, rissige Oberfläche, ein schmutziges Grau oder Braun. Bei genauerer Betrachtung ist zu erkennen, daß es sich um Pappen, Holz oder alte Linoleumstücke handelt, die Wesker aus Schutthalden herausgezogen hat und die noch Spuren ihrer einstigen Geschichte zeigen, etwa eine abgewetzte, verschlissene Farbigkeit oder Eindruckstellen von Stuhl- oder Tischbeinen, die im Bild- oder Werkkontext wesentliche Strukturelemente darstellen. Ähnlich wie Schwitters verwendet Wesker also Fundstücke, Abfallprodukte unserer Industriegesellschaft, die zumeist unbearbeitet in der Realität des Kunstwerks gleichsam zu neuem Leben aktiviert werden. Allerdings ist Weskers Weg zu diesen Arbeiten keineswegs so spielerisch und zielstrebig wie derjenige von Schwitters. Weskers Fundstücke lagerten teilweise seit Jahren in seinem Atelier, ehe sie zum Einsatz kamen. Sie haben ihn zwar schon lange fasziniert, ohne daß er genau wußte, warum oder was er damit anfangen könnte. Wie eine ästhetische Zeitbombe gewissermaßen schlummerten sie in seinem Atelier, wartend auf den Moment, wo sie ihre Sprengkraft entfalten könnten.
Immerhin hat Wesker in seiner Malerei zunächst ganz gegenständlich in realistischer Manier gearbeitet. Über einen langen, für den Außenstehenden geradezu mühselig erscheinenden Entwicklungsprozeß hat er zu einer immer reduzierteren Farb- und Formensprache gefunden. Wenn er dabei die menschliche Figur, das zentrale Thema seiner früheren Bilder verlassen hat, um sich ganz auf die Frage von Farbe und Form zu konzentrieren unabhängig von ihrer literarischen Bedeutung – ohne diese jedoch gänzlich auszuklammern – und er nun in der letzten Zeit zu einer Farbpalette von dunklen Blau-, Grau-, Schwarz-, Braun- oder schmutzigen Beigetönen gelangt ist, die sich augenfällig der farblichen Qualität seiner Fundstücke angenähert hat, dann wird deutlich, dass Wesker nicht aus modischer Laune die Fundstücke in seine künstlerische Arbeit integriert hat, sondern daß sie in einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung, zum jetzigen Zeitpunkt erst für ihn benutzbar, erfahrbar und begreifbar geworden sind.
Erst jetzt ist es ihm möglich, jene lange schlummernde Faszination in eine zielgerichtete Befragung der Fundstücke nach ihren Gestaltqualitäten und ihren Wirkungen umzusetzen. Ganz bewusst und demonstrativ hat Wesker begonnen, die meist unbearbeiteten, allenfalls etwas vom Staub befreiten Objekte auf einen Sockel zu heben oder sie in den Bildern förmlich einzubetten in eine künstlerisch gestaltete Rahmenzone. Abgesehen davon, dass in jenem Akt der Einbettung, der Isolierung, ein Wechselgespräch zwischen dem objet trouvé und künstlerischer Gestaltung entsteht, steckt darin auch ein Moment von Konservierung, von "Festhalten-wollen". Das kommt beispielsweise in den Streifen zum Ausdruck, die als konstruktive Bildelemente die auseinandergerissenen oder auseinanderdriftenden Farbflächen, Pappen und Linoleumstücke zusammen halten suchen oder besonders eindringlich in solchen Arbeiten, wo die Linoleumstücke vollkommen einbandagiert sind mit ölgetränkten Papierstreifen, so als handele es sich um ein empfindliches Reliefbruchstück, ein kostbares Stück Kulturgut, das es zu bewahren gelte. Das erinnert an eine künstlerische Bewegung Anfang der 70er Jahre, die auf der Ducumenta 5, 1972, stark vertreten war und als "Spurensicherung" in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Eine Spurensicherung ist es für Wesker vielleicht insofern, als er seinen eigenen Empfindungen, seiner Faszination nachspürt, die an diese Fundstücke gebunden sind und den Dingen fast eine magische Kraft zuzusprechen scheinen, und daß er in der Auseinandersetzung mit den Fundstücken jener Wirkung habhaft zu werden sucht. Die künstlerische Arbeit also als ein Prozeß ästhetischer Erkenntnis, in dem der Künstler in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit etwas von dem zu erfahren trachtet, was er selbst und was die Wirklichkeit ist oder sein könnte.
So gesehen ist Weskers künstlerische Arbeit ein Abenteuer ohne feste Vorstellung, wie Robert Motherwell, einer der großen Künstler der amerikanischen Abstraktion einmal den künstlerischen Arbeitsprozeß umschrieben hat. Das Vertrauen, heißt es bei Motherwell weiter, in das, was sich zwischen Schöpfer und Leinwand ereignet, wie unerwartet es auch sein mag, wird zum Mittelpunkt... die wichtigsten Entscheidungen im Malprozeß beruhen auf Vertrauen nicht auf Geschmack und – so müßte man wohl ergänzend hinzufügen – sie beruhen nicht auf endgültiger Sicherheit oder Gewißheit.
Dr. Reinhold Happel, aus: Wesker ,Katalogtext, Braunschweig 1992